David Samuel (Dovid Schmuel) MARGULES, geboren am 21. September 1884 in Lemberg, damals Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Galizien, war das dritte von sechs Kindern des jüdischen Ehepaares Penina Pess und Menachem Mendel Margules, Lederhändler in Lemberg (polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw).

Der junge David Samuel löste sich – sehr zum Missfallen seiner Eltern, wird im Rückblick erzählt – von der Lebenswelt des orthodoxen Judentums in Galizien, um sich seinen Idealen, der bürgerlichen Bildung und Hochkultur in der Haupt- und Residenzstadt Wien zuzuwenden: David Samuel besuchte das renommierte Schottengymnasium der Benediktiner, absolvierte anschließend Rabbinats- und Philosophiestudien und promovierte zum Doktor der Philosophie. Dann war er noch einige Jahre in Wien als Religionslehrer tätig, eine Voraussetzung für das Amt des Rabbiners.

Im Jahr 1920, nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Angliederung des Kronlandes Galizien an Polen, heiratete Dr. MARGULES 35-jährig die 23-jährige Jüdin Rosa Zerline Leinwand aus Jaroslaw in Polen.
Das Ehepaar hatte zwei Töchter: die am 16. Mai 1921 in Jaroslaw geborene Josefa Nina und die am 30. Mai 1927 in Tachov (deutsch Tachau) geborene Gabriele Ella. Ihr Vater war in den 1920er Jahren Rabbiner des Bezirkes Tachov/Tachau nahe dem Kurort Mariánské Láznì (Marienbad) in der Tschechoslowakischen Republik.

In der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg war das Amt des Rabbiners seit dem Weggang Dr. Adolf ALTMANNs im Jahr 1920 unbesetzt. Bemühungen um eine dauerhafte Nachfolge blieben zur Zeit des anschwellenden Antisemitismus erfolglos.

Gegen Ende der 1920er Jahre hatte die Kultusgemeinde in Stadt und Land Salzburg noch 108 Mitglieder, die Beiträge zahlten, und zwei Fraktionen mit gegensätzlichen Positionen.
Die Konservativen errangen 1929 bei der Wahl zum Kultusrat wieder die Mehrheit und stellten daher den Präsidenten und seinen Stellvertreter. Die Zionisten waren durch das Mehrheitswahlrecht benachteiligt. Walter SCHWARZ, Geschäftsleiter des Kaufhauses S. L. Schwarz, war Obmann der Zionistischen Ortsgruppe Salzburg.

Am 27. September 1929 war Dr. MARGULES, der sich um das vakante Amt des Rabbiners von Salzburg bewarb, zum gegenseitigen Kennenlernen in der Synagoge an der Lasserstraße. Daraufhin wählte ihn der Kultusrat einstimmig zum Landesrabbiner, wobei betont wird, dass er die Sympathien aller Juden Salzburgs besitze – angesichts der Spannungen zwischen Konservativen und Zionisten bemerkenswert.
Dr. MARGULES war kein politischer Zionist, er war religiöser Jude mit Distanz zur Politik.

Seit Beginn des Jahres 1930 wohnte die Familie MARGULES im Salzburger Stadtteil Elisabethvorstadt. Am 17. Jänner 1930 hielt Dr. MARGULES seine Antrittspredigt in der Synagoge. Im selben Jahr referierte er über orthodoxes Judentum und über Heinrich Heine (Übertritt zum Christentum). Erwähnenswert sind auch seine Gedenkreden anlässlich des Todestages von Theodor Herzl als Begründer des politischen Zionismus. Die vom Rabbiner geleiteten Chanukka-Feiern, letztmalig im Dezember 1937, standen ebenfalls im Zeichen der Einigkeit, »des Zusammenhaltens aller jüdischen Glaubensgenossen«.

Es gelang dem Rabbiner, Spannungen zwischen Konservativen und Zionisten abzubauen und einen für beiden Seiten akzeptablen Kompromiss zu finden: sechs Konservative und sechs Zionisten, die sich im Mai 1935 auf einer Liste zur Wahl des Kultusrates stellten, mit dem Ergebnis, dass der 1883 in Salzburg geborene Otto Löwy, Sohn des vormaligen Präsidenten Rudolf Löwy und ebenfalls Konservativer, von 1935 bis 1938 als Präsident der Kultusgemeinde tätig war und dass zwei ältere Zionisten als seine Stellvertreter fungierten: der 1868 geborene Ludwig FISCHER und der 1856 geborene Ludwig Pollak, ein Neffe Albert Pollaks, des Gründers der jüdischen Gemeinde in Salzburg im Jahr 1867, dem Jahr des Staatsgrundgesetzes.

Ludwig Pollak, pensionierter Beamter, Oberregierungsrat in Ruhe, war der am längsten in Salzburg lebende Jude. Sein Sohn Ernst war der erste in Salzburg geborene Jude, der nach Palästina reiste, um ein neues Leben zu beginnen, dort aber 1920 sein Leben verlor.
Im Frühjahr 1936 zog Ludwig Pollak, mittlerweile Witwer im 80. Lebensjahr, zu seinen in Triest verheirateten Töchtern Margarethe und Gertrud. Seine Position als Vizepräsident der Kultusgemeinde übernahm Dr. Paul Schwarz, der jüngere Bruder des Walter SCHWARZ.

Dora, die Ehefrau des Walter SCHWARZ, und ihre drei Söhne Hugo, Rafael und Benjamin lebten seit Anfang der 1930er Jahre in Palästina (Eretz Israel). Einige Male war Dora Schwarz zu Besuch in Salzburg. Bei dieser Gelegenheit hielt sie Vorträge.
Bekannt sind die Themen »Die Einordnung der deutschen Juden in Palästina« (1933) und »Eine jüdische Bäuerin spricht zu Euch« (1935). Es zeigt sich, dass Frauen in der Zionistischen Ortsgruppe besonders aktiv waren. Edith Ornstein referierte zum Beispiel in Gegenwart des Rabbiners über die Frau im Zionismus.

Aus dem jüdischen Salzburg gingen laufend Spenden an »Keren Kajemeth«, den Jüdischen Nationalfonds, der seine Aufgabe darin sah, Jüdinnen und Juden das Leben in Eretz Israel zu ermöglichen.
Zu den Spendern zählte Stefan ZWEIG, obschon kein Zionist.
Anlässlich seines 50. Geburtstages am 28. November 1931 spendete die Zionistische Ortsgruppe einen Baum in Eretz Israel auf den Namen Stefan ZWEIG – eine Initiative seines Freundes Walter SCHWARZ.

Wir wissen dank einer bislang unbeachteten Quelle, dass Dr. MARGULES am 15. November 1937 eine jahrelange Forderung der Zionistischen Ortsgruppe erfüllte: die Eröffnung einer jüdischen Bibliothek in der Synagoge. Buchtitel sind leider nicht bekannt.
Ihre Spender haben jedoch Namen, ausnahmslos Juden, darunter Stefan ZWEIG, der im Mai 1937 bei der Räumung seines verkauften Hauses in Salzburg 140 Bücher jüdischer Autoren seiner Kultusgemeinde geschenkt hatte – Bücher, die unter dem nationalsozialistischen Regime spurlos verschwanden. Die Nachwelt sollte davon nichts erfahren.

Das antisemitische Salzburg wusste allerdings seit den 1920er Jahren, wer Jude – nach rassistischer Zuschreibung – war. Namen und Adressen stehen in den »Judenlisten«, die der Salzburger Antisemitenbund, auf Boykott und Vertreibung aller Juden abzielend, seit den 1920er Jahren publizierte und bis März 1938 in »arischen« Geschäften verbreiten ließ:

Achtung!
Bei mir liegt zur Einsicht eine Judenliste von Salzburg auf!
Hans Mösel – Zur Küchenfee, Salzburg, Linzergasse 56

Salzburger Volksblatt, 15. März 1938, S. 12

Der Boykott »Kauft nicht bei Juden!« und die Nähe der Stadt Salzburg zum nationalsozialistischen Deutschland machten der jüdischen Gemeinde schwer zu schaffen. Das zeigt sich speziell an der rückläufigen Zahl der Geburten und Trauungen.
Die Daten müssen jedoch mühsam anhand der Melderegister und Matriken der heimatberechtigen Personen rekonstruiert werden, da die Geburts- und Trauungsbücher der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg unter dem NS-Regime geraubt wurden, seither als »verlustig« gelten.

Recherchen ergaben, dass in den sieben Jahrzehnten jüdischen Lebens in Salzburg 192 Kinder jüdischer Paare geboren wurden: 154 Kinder während der Monarchie und 38 in den folgenden Jahren.
Am 24. September 1933 (!) wird in Salzburg die letzte Geburt eines jüdischen Kindes registriert: Ernst Grün, Sohn des Ehepaares Ilse und Dr. Franz Grün, der Rechtsanwalt, Zionist und Mitglied des Kultusrates war.
Die Familie erkannte rechtzeitig die Bedrohung. Ihr gelang im März 1938 die Flucht nach Argentinien.

Die jüdische Gemeinde schrumpfte zusehends. In der achtjährigen Amtszeit des Rabbiners Dr. MARGULES ließen sich nur zwei Paare in der Synagoge trauen, beide Paare noch Anfang der 1930er Jahre: am 2. März 1930 Edith Eisenberg aus Salzburg und Gustav Reitmann aus Leoben, die mit ihrer in Salzburg geborenen Tochter Marion nach Palästina emigrierten; am 17. September 1933 Else Schneider aus St. Johann im Pongau und Felix Preis aus Klagenfurt, deren Kinder Eva und Peter in Klagenfurt zur Welt kamen.
Die Familie wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

Ungebundene Jüdinnen und Juden zogen es vor, ihre seit 1933 exponierte Geburtsstadt Salzburg in der Nachbarschaft des Reichskanzlers Adolf Hitler frühzeitig zu verlassen und erst im Ausland zu heiraten: Margarethe und Gertrud Pollak in Triest; Liselotte Bäck, Martha Eisenberg, Walter Weinstein und Hugo Schwarz in Jerusalem oder Tel Aviv.
Im Mai 1939 bekamen Tamara und Hugo Schwarz in Tel Aviv ihren ersten Sohn mit dem Vornamen seines Großvaters Walter SCHWARZ, der als Gestapo-Häftling am 1. September 1938 in München einen gewaltsamen Tod erlitt.

Wie reagierten Jüdinnen und Juden auf den nationalsozialistischen Terror in Salzburg? Flüchten oder Ausharren? Dazu bemerkt Josefa Nina Lieberman, die ältere Tochter des Rabbiners Dr. MARGULES, im Rückblick:

As a rabbi, Dr. Margules felt that jewish life had to go on, and his first contact with the newly established authorities [Gestapo] was to ask permission to hold Sabbath services for his congregation.
It just so happened that this coincided with the reading of the ancient threat to the survival of the jewish people.

Rabbiner Dr. MARGULES stellte sich den Bedrohungen und gab sein Bestes – bis zur Auslöschung seiner Gemeinde im November 1938. Etliche jüdische Familien mussten aber bereits vor dem Pogrom ihre Wohnungen räumen und ihren Heimatort verlassen. Andere fanden vorübergehend bei befreundeten Familien Unterschlupf.

Ihre letzten Wohnadressen stehen in den »Judenlisten« der Polizei. Dokumentiert ist überdies, dass 30 bis 50 uniformierte Mitglieder der SA (Sturmabteilung der NSDAP) in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 – »Reichskristallnacht« – sieben jüdische Geschäfte und die Synagoge schwer beschädigten.

Auf einem Foto, das der Pressefotograf Franz Krieger im Garten der verwüsteten Synagoge schoss, ist ein jüdischer Gebetsschal mit aufgestecktem Gebetsbuch zu sehen, offensichtlich ein Grabkreuz darstellend – Tod den Juden.

Josefa Nina, die Tochter des Rabbiners, erzählt, dass ihrer bedrohten Familie auch Sympathie bekundet worden sei, allerdings von anonymen Briefschreibern. Schwerwiegend war das Schweigen der christlichen Kirchen zum öffentlichen Juden-Pogrom, der viele Schaulustige anzulocken vermochte.
Auch die Verhaftungen von »ca. 60 bis 70 Juden« (laut Bericht der SS) blieben in Salzburg nicht unbemerkt, ebenso wenig die Polizeirazzien in den Wohnungen und Häusern der Opfer.

Um die Vertreibung und Beraubung der jüdischen Familien zu beschleunigen, ließ die Gestapo-Stelle Salzburg auf Befehl des SS-Sturmbannführers Karl-Heinz Rux nachweislich 26 Juden der Geburtsjahre 1883 bis 1914, zuvorderst den Rabbiner Dr. MARGULES und den Präsidenten der Kultusgemeinde Otto Löwy, in das KZ Dachau deportieren (registrierter Zugang am 12. November 1938).

Noch während der KZ-Haft des Rabbiners (Häftlingsnummer 23535) mussten seine Ehefrau und beiden Töchter, damals 17- und 11-jährig, ihre Wohnung räumen, ihre Koffer packen und nach Wien reisen.
Ihre schöne Wohnung im Haus Josef-Mayburger-Kai 38 übernahm daraufhin ein Salzburger NSDAP-Funktionär, Gauamtsleiter Karl Feßmann.

Die im KZ Dachau malträtierten Juden wurden spätestens gegen Jahresende 1938 entlassen, Dr. MARGULES am 5. Dezember 1938. Die Familie erhielt dank ihrer Kontakte ein Permit zur Emigration nach England. Damit gelang es der in Wien gefährdeten Familie, den Töchtern im Februar 1939 und ihren Eltern im folgenden Monat, ihre Freiheit wiederzuerlangen.

In England galt die Familie MARGULES als staatenlos: eine Flüchtlingsfamilie, die während des Zweiten Weltkrieges in prekären und unsicheren Verhältnissen lebte. Sie fand aber noch während des Krieges eine Bleibe in Cambridge.

Drei Jahre nach Kriegsende erhielt Dr. MARGULES die britische Staatsbürgerschaft. Er starb 66-jährig am 10. Februar 1951 in Cambridge, seine Ehefrau 95-jährig im Jahr 1992.

Ihre Töchter Josefa Nina und Gabriele Ella lebten in den USA. Die ältere war Psychologin, sie starb 2012. Die jüngere war Künstlerin und starb 2016.
Die Psychologin Josefa Nina Lieberman hinterlässt eine informative und berührende Biografie über ihren Vater: »He came to Cambridge: Rabbi David Samuel Margules« (1982).

Es vergehen allerdings noch Jahrzehnte, ehe die Shoah-Opfer Namen und Orte im Gedächtnis der Stadt Salzburg haben.

Seit August 2007 sind »Stolpersteine« Teil des öffentlichen Raumes und des Alltags der Stadt.
Die Biografien der Opfer sind hingegen im digitalen Raum, im Internet weltweit abrufbar, in deutscher und englischer Sprache.

Quellen

  • Stadt- und Landesarchiv Salzburg
  • Israelitische Kultusgemeinde Salzburg
  • Mitteilungen für die jüdische Bevölkerung der Alpenländer (Oberösterreichische Landesbibliothek)
  • Josefa Nina Lieberman: He came to Cambridge. Rabbi David Samuel Margules, Cambridge 1982
Autor: Gert Kerschbaumer

Stolperstein
verlegt am 27.01.2020 in Salzburg, Josef-Mayburger-Kai 38

<p>HIER WOHNTE<br />
DR. DAVID SAMUEL MARGULES<br />
RABBINER<br />
JG. 1884<br />
VERHAFTET 10.11.1938<br />
DACHAU<br />
ENTLASSEN 5.12.1938<br />
FLUCHT NACH ENGLAND</p>
Porträt Rabbi David Samuel Margules von Gabriele Margules
Quelle: Leo Baeck Institute, The Edythe Griffinger Art Catalog Meldeschein der Familie Margules (Vorderseite) Meldeschein der Familie Margules (Rückseite) Verwüstete Synagoge an der Lasserstraße nach dem November-Pogrom 1938
Quelle: Stadtarchiv Salzburg, Fotoarchiv Franz Krieger Garten der verwüsteten Synagoge – jüdische Glaubensgegenstände als Grabkreuz
Quelle: Stadtarchiv Salzburg, Fotoarchiv Franz Krieger

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