Grete DE FRANCESCO, als Margarethe Weissenstein am 5. November 1893 in Wien geboren, war die ältere von drei Töchtern des jüdischen Ehepaares Else, geborene Kuffler, und Emanuel Weissenstein, der Generaldirektor der Vereinigten Jutefabriken in Wien und Budapest war. 1899 ließ das Ehepaar seine drei Töchter in der Wiener Lutherischen Stadtkirche taufen.

Die zum assimilierten Groß- und Bildungsbürgertum zählende Familie Weissenstein wohnte in Wien-Döbling, Felix-Mottl-Straße 39, wie aus dem High Life Almanach der Wiener Gesellschaft hervorgeht.

Im Jahr 1928 erwarben Else Weissenstein und ihre Töchter Margarethe, Elisabeth und Dorothea in Salzburg die Villa Franz-Josef-Straße 11 (Faberstraße 16). Dort befand sich seit der Monarchie ein Sanatorium, 1928 benannt nach seinem neuen Leiter, dem Chirurgen Dr. Gebhard Hromada, Ehemann der Miteigentümerin Elisabeth Weissenstein.

Im September 1932 hatte das Sanatorium Hromada einen prominenten Patienten: Winston Churchill, der an Paratyphus erkrankt war. Bis zum Gewaltjahr 1938 bevorzugten Jüdinnen und Juden das Sanatorium Hromada mangels eines eigenen Krankenhauses in Salzburg.

Die unter dem NS-Regime als »jüdisches Vermögen« kategorisierte Villa Franz-Josef-Straße 11 wurde aus unbekannten Gründen nicht enteignet, allerdings durch ein Pfandrecht des Deutschen Reiches für eine vollstreckbare Forderung (»Reichsfluchtsteuer«) belastet und unter Zwangsverwaltung gestellt. Das vormalige Sanatorium Hromada diente der Deutschen Wehrmacht als »hygienische Versuchsanstalt«, eine nicht spezifizierte Benutzungsart.

Am 31. Mai 1938, somit unter der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, starb Emanuel Weissenstein 79-jährig in Wien, bestattet auf dem Döblinger Friedhof. Seiner Frau Else Weissenstein und ihren verheirateten Töchtern Elisabeth Hromada und Dorothea Potter gelang die Flucht nach Süd- und Nordamerika.

Es zeigt sich, dass der Lebensweg der älteren Tochter Margarethe nach dem Zerfall der Monarchie Österreich-Ungarn in unsteten Bahnen verlief. Dafür gibt es Gründe, auch bislang unbekannte: im Speziellen ihre Ehe und der Tod ihres Kindes.

Margarethe Weissenstein, die während des Ersten Weltkrieges noch in München lebende Absolventin einer Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie, heiratete am 10. Oktober 1916 in der katholischen Pfarre Wien-Döbling, am Wohnort der Familie Weissenstein.

Margarethes Ehemann hieß Julius (italienisch Giulio) De Francesco, geboren am 21. September 1891 in Pergine bei Trient (Trento). Der Sohn eines Bezirksschulinspektors im Trentino, das bis 1918 zur Monarchie Österreich-Ungarn gehörte, war Diplom-Ingenieur, Techniker und Leutnant der Tiroler Kaiserjäger mit Kriegsauszeichnung: Silberne Tapferkeitsmedaille erster Klasse.

Am 5. Juni 1918 bekam Grete DE FRANCESCO in München einen Sohn mit dem Vornamen Peter. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wohnten die Eltern mit ihrem Sohn in Wien-Döbling, Felix-Mottl-Straße 39, im Haus der Familie Weissenstein. Dort erkrankte ihr vierjähriger Sohn Peter. Er starb am 15. März 1923 an Bauchfellentzündung im Rudolfinerspital, bestattet auf dem Döblinger Friedhof (laut Sterbebuch der katholischen Pfarre Döbling).

Zu beachten ist außerdem, dass der im österreichischen Trentino geborene Ehemann der Grete DE FRANCESCO nach dem Zerfall der Monarchie nicht für die Staatsbürgerschaft der Republik Österreich optierte, mit dem Resultat, dass auch seine Ehefrau Grete um 1919/1920 – ehe Italien zur faschistischen Diktatur unter Benito Mussolini mutierte – italienische Staatsbürgerin wurde.

In Wien konnte das Ehepaar offensichtlich nicht Fuß fassen. Die nächste Station ihres gemeinsamen Lebens lag bislang im Dunkeln.

In den Jahren 1925 bis 1927 berichtete »unser Korrespondent« (Anonymus) der Tageszeitung Neues Wiener Journal über das Theaterleben im faschistischen Italien, beispielsweise am 18. Februar 1926:

Pirandello antwortet … Die neueste Mailänder Sensation.

Es scheint, als ob der Autor des »italienischen Theaterbriefes« über Luigi Pirandello aus politischen Gründen ungenannt bleibt. Oder gibt es einen weiteren Grund: das biologische Geschlecht? War »unser Korrespondent« eine Frau?

Eine Frage, die sich klären lässt: Im Wiener Burgtheater hatte ein Stück von Luigi Pirandello am 16. Jänner 1926 Premiere: Das Leben, das ich dir gab. Aus diesem Anlass erschien im Programmheft ein Aufsatz von Grete DE FRANCESCO über ihren »Landsmann« Pirandello.

Es besteht wohl kein Zweifel, dass »unser Korrespondent« in Mailand Grete DE FRANCESCO heißt. Im Neuen Wiener Journal erschien allerdings am 19. Oktober 1927 der letzte »italienische Theaterbrief«.

1928 verließ Luigi Pirandello das faschistische Italien, er ging nach Berlin »ins Exil«, so wird erzählt.

1928 wurden die neuen Eigentümerinnen der Villa Franz-Josef-Straße 11 im Grundbuch der Stadt Salzburg eingetragen: Frau Else Weissenstein und ihre Töchter Margarethe, Elisabeth und Dorothea. Die Adresse der Tochter Margarethe DE FRANCESCO lautet damals: Private in Berlin-Friedenau.

Grete DE FRANCESCO lebte also ebenfalls in Berlin, quasi »im Exil«. Verbürgt sind weitere Wegstationen: Frankfurt am Main, Paris, Basel und wieder Mailand, ihre letzte selbstgewählte Adresse.

Bekannt ist mittlerweile, dass Grete DE FRANCESCO an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin studierte und eine Diplomarbeit über den italienischen Faschismus verfasste. Anlässlich des 10-jährigen Bestehens der Berliner Hochschule erschien am 17. November 1930 im Neuen Wiener Tagblatt der Artikel »Politik der Wissenschaft« von Grete DE FRANCESCO aus Berlin.

Ihre politische Orientierung äußert sich – allerdings verhalten – in der Besprechung des sowjetischen Dokumentarfilmes TURKSIB über den Bahnbau von Turkestan nach Sibirien (Neues Wiener Tagblatt vom 17. Februar 1930).

Grete DE FRANCESCO publizierte überdies im Berliner Tageblatt, in der Frankfurter Zeitung und bis 1940 in der Basler Ciba-Zeitschrift. Sie war unzweifelhaft eine namhafte Forscherin, Journalistin und Antifaschistin.

Ihre letzte Adresse liegt jedoch im faschistischen Italien Mussolinis: Milano, Via Renato Fucini 5.

Diese Adresse steht auf einem Brief, den Grete DE FRANCESCO am 16. Oktober 1937 an Thomas Mann schreibt, mit der Ankündigung, dass er aus Basel ihr Buch Die Macht des Charlatans zugesendet bekommt. Ihr Wunsch war es freilich, dass ihr Buch von Thomas Mann, dem Nobelpreisträger und Autor der im faschistischen Italien spielenden Novelle Mario und der Zauberer, in einer Zeitschrift rezensiert wird.

Grete DE FRANCESCOS vielbeachtetes Buch Die Macht des Charlatans wurde sogar in Österreich, das sich politisch am italienischen Faschismus orientierte, mehrmals rezensiert, zuletzt am 13. März 1938 im Neuen Wiener Tagblatt, darüber hinaus im Exil von Walter Benjamin – ein Buch, das international als Standard- und Referenzwerk zum Thema »Scharlatanerie« gilt und 1939 ins Englische übersetzt wird, mit lobenden Worten von Thomas Mann:

I learn with pleasure that you are publishing a translation of Grete de Francesco’s Charlatan which I know and appreciate as a fine piece of work.

Das Leben der Grete DE FRANCESCO war in Italien, das seit September 1943 von der deutschen Wehrmacht und der SS besetzt war, massiv bedroht. In ihrem Lebensort Mailand befand sich die Terrorzentrale der SS unter dem Kommando des SS-Hauptsturmführers Theo Saevecke1. Zudem war die norditalienische Metropole ein Zentrum des italienischen Widerstandes, der Resistenza.

Im Oktober 1944 wurde Grete (Margherita) DE FRANCESCO, Jüdin und Antifaschistin, denunziert und verhaftet. Genaueres ist nicht zu erfahren, weil die SS bei ihrem Abzug alle Zeugnisse ihres Terrors inklusive der Häftlingsbücher der »Polizeilichen Durchgangslager« in Fossoli und Bozen vernichtete.

Gewiss ist, dass Grete DE FRANCESCO in Gries bei Bozen interniert war und am 14. Dezember 1944 in einem speziellen Transport mit 68 Frauen in das KZ Ravensbrück deportiert wurde. Ende Februar oder Anfang März 1945 soll Grete von einer Freundin noch lebend in einem zur »Evakuierung« bestimmten Block von Ravensbrück gesehen worden sein. Das kann bedeuten, dass Grete DE FRANCESCO 51-jährig in der Gaskammer von Ravensbrück – mit dem zynischen Tarnnamen »Schonungslager Mittwerda« – ermordet wurde.

Gretes Ehemann Giulio, ihre Mutter Else und ihre jüngeren Schwestern Elisabeth und Dorothea erlebten die Befreiung Europas.

Gretes Schwester Dorothea Potter, die in Rüschlikon am Zürichsee lebte, wusste, dass Grete im Oktober 1944 in ihrer Mailänder Wohnung verhaftet und in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert wurde. Auf Antrag der Schwester wurde Margarethe DE FRANCESCO im Jahr 1949 durch das Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen mit 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Ihre Mutter Else Weissenstein starb 83-jährig am 10. August 1954 in London.

Im selben Jahr wurde ihr Haus in Salzburg – vormals Sanatorium Hromada – an die Versicherungsanstalt der österreichischen Bundesländer verkauft.

Die verwitwete Elisabeth Hromada, die 1957 aus Südamerika nach Salzburg zurückkehrte und im Stadtteil Parsch wohnte, starb hier 83-jährig am 17. Oktober 1978.

1 SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke war Kommandant der Mailänder SS-Terrorzentrale und Kriegsverbrecher, der nach 1945 für den US-Nachrichtendienst CIA und das deutsche Bundeskriminalamt arbeitete (siehe Wikipedia)

Quellen

  • Israelitische Kultusgemeinde Wien
  • Tauf- und Trauungsbücher Wien und Niederösterreich
  • Stadt- und Landesarchiv Salzburg und Wien
  • ANNO: Austrian Newspapers Online
  • Bernhard Guttmann (gu.): In memoriam Grete de Francesco, in: Die Gegenwart, Freiburg im Breisgau, 30. 9. 1947, S. 22
  • Grete De Francesco: Die Macht des Charlatans, Neuauflage Berlin 2021 (mit einem biographischen Essay von Volker Breidecker)
  • Wikipedia Eintrag Grete de Francesco
Autor: Gert Kerschbaumer

Stolperstein
verlegt am 14.07.2015 in Salzburg, Franz-Josef-Straße 11

<p>HIER WOHNTE<br />
MARGARETHE WEISSENSTEIN<br />
JG. 1893<br />
FLUCHT 1938<br />
FRANKREICH-ITALIEN<br />
DEPORTIERT 14.12.1944<br />
RAVENSBRÜCK<br />
ERMORDET FEB. 1945</p>
Übersetzung des Buches von Grete de Francesco (Margarethe Weissenstein) ins Englische mit Worten von Thomas Mann auf dem Cover – Yale University Press New Haven 1939 Cover der Neuausgabe in Deutsch, Die Andere Bibliothek (2021)

Alle Stolpersteine: Franz-Josef-Straße 11