Lothar WALLERSTEIN, geboren am 6. November 1882 in Prag (Praha), Österreich-Ungarn (jetzt Tschechische Republik), war das fünfte von sechs Kindern des jüdischen Ehepaares Bertha, geborene Reiniger, und Moritz Wallerstein, Oberkantor und Chordirigent an der Maisel-Synagoge, außerdem Leiter einer privaten Musikschule.
Am 7. November 1906 starb Moritz Wallerstein, aufgebahrt in der Maisel-Synagoge, bestattet auf dem jüdischen Friedhof in Straschnitz (Strašnice), eine im Prager Tagblatt ausführlich geschilderte Zeremonie. Auch seine 1930 verstorbene Ehefrau Bertha Wallerstein wurde dort beerdigt, doch keines ihrer Kinder.
Heute wissen wir, dass ihre Kinder Gertrud, Viktor, Konrad und Therese und überdies ihre Enkel Katharina, Heinz, Greta, Margot und Herbert die Shoah nicht überlebten.
Gertrud, die älteste der Geschwister Wallerstein, war Ehefrau des Spediteurs Max Tauber in Prag. Ihr Bruder Dr. phil. Viktor Wallerstein war Kunsthistoriker und Galerist in Berlin.
Vier Geschwister ergriffen musikalische Berufe: Laura, von ihrem Vater in seiner Musikschule ausgebildet, war als »Lotte Westen« Opernsängerin in Graz und mit dem Juristen Dr. Julius Bunzel verheiratet. Ihr Bruder Konrad war zunächst Pianist, Korrepetitor und Kapellmeister an der Musikschule seines Vaters und schließlich Professor für Operngesang an der Deutschen Musikakademie in Prag.
Therese, die jüngste der sechs Geschwister Wallerstein, war Pianistin, die in Prag mit ihrem Bruder Lothar viel beachtete Konzerte an zwei Klavieren gab:
Das Geschwisterpaar Therese und Lothar Wallerstein, zwei musikgeborene Künstlernaturen, einten sich in Tondichtungen von Bach, Mozart und Liszt zu edelstem und harmonischstem pianistischem Zusammenwirken.
Prager Abendblatt, 7. 11. 1914, S. 3
Lothar WALLERSTEIN war ebenfalls Klavierschüler seines Vaters, studierte aber auf dessen Wunsch Medizin und promovierte 1906 in Prag zum Doktor der Medizin. Nach dem Tod seines Vaters besuchte er die Meisterklasse des prominenten Liszt-Schülers, Pianisten, Dirigenten und Komponisten Bernhard Stavenhagen am Konservatorium in Genf.
Lothar WALLERSTEIN begann 1910 als Korrepetitor seine Opernlaufbahn in Dresden und avancierte am Stadttheater von Posen (polnisch Poznan) zum Kapellmeister und Oberregisseur.
Am 11. April 1916, während des Ersten Weltkrieges, hielt er im Prager »Club der deutschen Künstlerinnen« einen Vortrag über moderne Opernregie. Er präsentierte sich als Verfechter eines modernen Inszenierungsstils.
Bis Kriegsende 1918 diente er als Militärarzt, ausgezeichnet mit dem Offiziers-Ehrenzeichen des Roten Kreuzes.
In den ersten Friedensjahren wirkte Lothar WALLERSTEN als Opernregisseur in Duisburg und Frankfurt am Main, wo er sich ob seiner Experimentierfreude einen Namen machte, wie einer Wiener Zeitung zu entnehmen ist:
… Bei der Neueinstudierung der ‚Walküre‘ in Frankfurt unter Dr. Lothar Wallerstein sind zum Entsetzen aller rechtgläubigen Wagnerianer die Bärte gefallen. Wotan, Siegmund, sogar Hunding standen ohne diesen beliebten Schmuck auf der Szene, was der Wirksamkeit ihres Mienenspiels sehr zugute kam. Auch sonst wich das Szenenbild vielfach von der Tradition ab. […]
Der erneuerten ‚Walküre‘ war ein ungewöhnlich starker Erfolg beschieden.
Der Tag, 12. 12. 1925, S. 7
Zu dieser Zeit mangelte es offenbar der Wiener Staatsoper an Regisseuren von künstlerischem Format, da Direktor Franz Schalk nach Frankfurt am Main reiste, um Lothar WALLERSTEIN anzuwerben. Der gefragte Opernregisseur gab Zusagen für Gastinszenierungen an der Wiener Staatsoper und bei den Salzburger Festspielen.
Auf dem Programm der Salzburger Festspiele 1926 stand erstmals eine Oper, die damals als modern galt: Ariadne auf Naxos von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal (Libretto). Es zeigt sich, dass Richard Strauss hinter den Kulissen die Fäden zog: Sein Favorit für die musikalische Leitung seiner Oper war Clemens Krauss, Opernintendant in Frankfurt am Main. Dessen Regisseur war Lothar WALLERSTEIN.
Beide galten als Gäste der Wiener Staatsoper, als sie unter Mitwirkung des Architekten und Bühnenbildners Oskar Strnad im Salzburger Stadttheater (heute Landestheater) die Oper Ariadne auf Naxos mit Lotte LEHMANN in der Titelrolle genial inszenierten – als »Salzburger Ariadne« hoch gelobt, sogar vom gestrengen Wiener Kritiker Paul Stefan (Grünfeld):
… Zum ersten Male wurde ein modernes Werk, die Oper ‚Ariadne auf Naxos‘ von Richard Strauß, in das Programm der Festspiele aufgenommen, eben jene Oper, die so lebendig mit dem Barock der Musik, dem Barock des Bühnenbildes verbunden ist. Um es gleich zu sagen: es war, neben der ‚Fledermaus‘, die Höhe, der Triumph der Salzburger Aufführungen, trotz ‚Turandot‘ vielleicht ihre Sensation.
Sensation vor allem dank der Inszenierung durch Strnad und der Regie Wallersteins. Strnad läßt, durch die Kleinheit und geringe Tiefe des Salzburger Theaters gezwungen, das Vorspiel auf Treppen, Gängen und in den Schauspielergarderoben auf schmalem Raum, aber förmlich in zwei Stockwerken spielen. Er hat für die eigentliche Oper eine prachtvolle Barockarabeske als Bühnenrahmen, einen modern gesehenen Greco als Prospekt. […]
In zwei Proben hat Wallerstein eine Fülle von Leben, Bewegung, Nuancen geschaffen, alles Starre und Tote eliminiert, ein Kunstwerk aus ganz neuem Geist erstehen lassen. […]
Der jubelnde Dank an alle Mitwirkenden, den Dirigenten, den Regisseur und den Bühnenmaler zeigte, was Salzburg könnte, wenn es sich nicht bloß auf das österreichische Glück der Improvisation verließe, sondern nach Plänen und System arbeiten wollte. P. Stf.
Die Stunde, 20. 8. 1926, S. 8
Dem Wiener Kritiker Paul Stefan missfiel hingegen das von Max REINHARDT inszenierte – allzu improvisierte – Märchenspiel Turandot mit dem Szenenbild von Oskar Strnad im Festspielhaus.
Dabei ist zu beachten, dass REINHARDT Goethes Faust in der Felsenreitschule mit Oskar Strnads Szenenbild spielen wollte – im Juni 1926 abgesagt und durch Carlo Gozzis Turandot ersetzt, doch aus welchen Gründen: Kosten, Intrigen?
Unerklärlich ist überdies, dass die »Salzburger Ariadne« mit dem originellen Bühnenbild von Oskar Strnad in den nächsten Festspielsommern nicht mehr gespielt wurde, weder im Stadttheater noch im Festspielhaus.
Im Festspielhaus, das Clemens Holzmeister, Architekt und Professor an der Wiener Akademie der bildenden Künste, in eine Opernbühne verwandelte und mit Szenenbildern ausstattete, ging erstmals am 13. August 1927 eine Oper in Szene: Beethovens einzige Oper Fidelio mit Lotte LEHMANN als »Leonore«. Regie führte Lothar WALLERSTEIN als designierter Oberregisseur der Wiener Staatsoper.
Die erste Operninszenierung im neuen Festspielhaus glückte, sofern man dem lokalen Musikkritiker Otto Kunz Glauben schenkt:
… Es war eine Existenzfrage an das Schicksal: kann man im Festspielhaus Opern aufführen? Das Haus wurde bekanntlich – Gott schlug damals Salzburg mit Blindheit – für ‚Mysterienspiele‘ errichtet.
Die mysteriöse Auffassung, eine Bühne ohne Seitenbühnen, ohne Hinterbühne, ohne Versenkung, ohne Schnürboden zu bauen, gedieh zwangsläufig zu einem schier unlösbaren Wirrwarr. Der Kreuzweg, den – sehr zum Schaden des Rufes der Festspiele – die Angelegenheit ging, ist allbekannt. Nun liegt das Resultat der endgültigen Prüfung des Saales vor: die eingangs gestellte Frage ist zu bejahen. […]
Prof. Clemens Holzmeister baute für den ‚Fidelio‘ die Bühnenbilder in großen kubischen Formen. Bekanntlich entsteht oft aus Zwang und Not eine künstlerisch hervorragende Lösung. So auch hier. Holzmeisters Bühnenbilder besitzen Stil, Größe, Charakter.
Sie sind ein trefflicher Zeitausdruck und kommen in ihrem klassizistischen Ernst Beethovens Musik entgegen. Auch die Regie Lothar Wallersteins ist rühmenswert. Er setzt die dramatischen Steigerungen, die Spannungen der Musik feinsinnig in Bewegung um. […] Otto Kunz.
Salzburger Volksblatt, 16. 8. 1927, S. 5
Fidelio in der Inszenierung Lothar WALLERSTEINs wird von 1927 bis 1937 in elf Festspielsommern 29-mal gespielt: unter der musikalischen Leitung von Franz Schalk, Clemens Krauss, Richard Strauss und zuletzt unter Maestro Arturo TOSCANINI.
Als WALLERSTEIN am 25. August 1926 im Mozarteum über »Regieprobleme bei Mozart« referierte, schwiegen die Theaterkritiker, als ob es keine Probleme gegeben hätte.
Dokumentiert ist jedenfalls in den Annalen der Festspiele 1928 bis 1937, dass Lothar WALLERSTEIN vier Mozart-Opern inszenierte: Die Zauberflöte, Don Giovanni und Le nozze di Figaro im Festspielhaus und Cosí fan tutte im Stadttheater.
Als im Festspielsommer 1928 erstmals im Festspielhaus eine Mozart-Oper, die als »Hohelied der Freimaurerei« apostrophierte Zauberflöte, in Szene ging, zeigte sich, worin die Probleme vornehmlich bestanden: in den räumlichen Widrigkeiten, die es mit der Inszenierung zu meistern galt.
Doch wer galt als Inszenator der Salzburger Zauberflöte: der Regisseur Lothar WALLERSTEIN oder der Bühnenbildner Oskar Strnad?
Nach der Premiere am 18. August 1928 im Festspielhaus urteilte der Wiener Kritiker Rudolf Holzer unmissverständlich:
… Oskar Strnad ist der Schöpfer der Salzburger Neu-Inszenierung, von der man die Empfindung hat, daß sie nicht jener Schikaneders [des Librettisten und Inszenators der Uraufführung anno 1791] entspricht, wohl aber dem volkstümlichen und zeitgeborenen Sinn des Märchens von der ‚Zauberflöte‘. Bildlich und szenisch, wahrhaft vollendet, trat in Salzburg dieses allertiefste und allerechteste Märchen der süddeutschen Volkspoesie zutage. […]
Diesen vorgezeichneten Inszenierungsprinzipien folgte auch Dr. Lothar Wallerstein in seiner Regie.
Neues Wiener Journal, 22. 8. 1928, S. 11
Der Salzburger Kritiker Otto Kunz vertrat eine ähnliche Meinung und schloss mit der Erfolgsmeldung:
… Das Haus war ausverkauft. Es war ein großer Abend. Darsteller, Dirigent, Bühnenbildner, Regisseur werden stürmisch gerufen. Kunz.
Salzburger Volksblatt, 20. 8. 1928, S. 6
Am 30. August 1928 konnte das Festspielpublikum die letzte Vorstellung der beliebten Zauberflöte unter der musikalischen Leitung von Franz Schalk genießen. Unverständlich ist, dass in den nächsten Festspielsommern keine Reprisen der erfolgreichen Inszenierung zustande kamen.
Für den weiteren Verlauf ist von Interesse, dass im Frühsommer 1928 an der Pariser Opéra Comique ein Mozart-Festival unter der musikalischen Leitung von Bruno WALTER stattfand. Er dirigierte fünf Opern: »Cycle de Mozart«.
Beeindruckend war ebenso das von Oskar Strnad gestaltete Szenenbild für die Pariser Zauberflöte.
Bruno WALTER dirigierte Die Zauberflöte auch in den Festspielsommern 1931 bis 1933. Regie führte in Salzburg aber nicht Lothar WALLERSTEIN von der Wiener Staatsoper, sondern Karlheinz Martin von der Berliner Volksbühne und einmalig im August 1933 der Bühnenbildner Oskar Strnad – sein grandioses Debüt als Regisseur der Salzburger Festspiele.
Befremdlich ist aber, dass Lothar WALLERSTEIN im Mai 1933, einige Wochen vor dem Regiedebüt Oskar Strnads unter Bruno WALTER in Salzburg, an der Wiener Staatsoper Mozarts Zauberflöte unter dem Dirigenten Clemens Krauss neu inszeniert hatte: mit dem Bühnenbild von Alfred Roller. Es waren beinahe zeitgleiche Inszenierungen ein und derselben Oper, aber mit verschiedenen Leading-Teams auf sehr unterschiedlichen Bühnen.
Allein der Wiener Musikkritiker David Josef Bach machte sich die Mühe, die Wiener und Salzburger Parallel-Inszenierungen der Zauberflöte miteinander zu vergleichen:
… Denn, bei allem Respekt für die Wiener Arbeit, die Salzburger Aufführung ist geistig, szenisch und musikalisch die überlegenere. Oskar Strnad hat diesmal nicht als Gestalter der Bühne allein, sondern auch als Spielleiter den Geist des Werkes sichtbar zu machen verstanden. […] Dr. D. J. Bach.
Arbeiter-Zeitung, 21. 8. 1933, S. 3
Beachtenswert ist ebenso, dass WALLERSTEIN an der Wiener Staatsoper im Zusammenwirken mit Oskar Strnad Opern inszenierte, darunter Neues und Gewagtes (Verbotenes unter dem NS-Regime notabene): Jonny spielt auf (1927), Wozzeck und Schwanda, der Dudelsackpfeifer (1930), schließlich im Mai 1935 die bereits in Salzburg mit Oskar Strnad in Szene gesetzte Oper Ariadne auf Naxos.
Im September 1935 starb Oskar Strnad 55-jährig in Altaussee, bestattet in einem Ehrengrab der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (Oskar Strnads Schwestern Hermine und Hilda sind Shoah-Opfer).
Alexander MOISSI, der die Titelrolle im Salzburger Jedermann letztmalig im Sommer 1931 gespielt hatte, war kein Jude, galt aber als Jude – geächtet als »der Jude Moissi«.
Im Sommer 1933 geschah etwas Einmaliges, Unerwartetes: Oberregisseur Lothar WALLERSTEIN – und nicht wie zu erwarten Max REINHARDT – inszenierte im faschistischen Italien das Mysterienspiel Jedermann von Hugo von Hofmannsthal mit Alessandro MOISSI in der Titelrolle.
In Mailand glückte es ihm, seine Leibrolle wieder zu spielen: allerdings auf Italienisch, in der Übersetzung La Leggenda di Ognuno von Italo Zingarelli und in der fulminanten Inszenierung von Lothar WALLERSTEIN. Premiere war am 11. Juli 1933 auf dem Vorplatz der mittelalterlichen Basilica di Sant’Ambrogio – mit sensationellem Erfolg:
Moissi erklärt: ‚Schönster Augenblick meines Künstlerlebens‘ […] Als am Schlusse der gestrigen Aufführung Alexander Moissi sein berühmtes ‚Vaterunser‘ beendet hatte, brach das Publikum nach einem Moment der Ergriffenheit in stürmische Kundgebungen aus.
Wiener Allgemeine Zeitung, 12. 7. 1933, S. 5
Befindlichkeiten sind zu entschlüsseln: Es schmerzte MOISSI zutiefst, als er 1932 nach einer rassistischen Hetzkampagne in Salzburg als »der Jude Moissi« abtreten musste und dabei den Rückhalt seines Impresarios Max REINHARDT vermisste. Dank der Regiekunst Lothar WALLERSTEINs konnte MOISSI wieder Verehrung und Bewunderung genießen, ehe er 55-jährig im März 1935 starb.
In den Annalen der Salzburger Festspiele ist festgehalten, dass Oberregisseur Lothar WALLERSTEIN in zwölf Festspielsommern zwölf Opern inszenierte, davon fünf von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal (Libretto):
• Ariadne auf Naxos, Die Frau ohne Schatten, Die ägyptische Helena und Elektra mit jeweils drei Vorstellungen,
• Der Rosenkavalier mit 27 Vorstellungen.
Der Salzburger Musikkritiker Otto Kunz fand eine Erklärung für die anhaltende Attraktion des Rosenkavaliers, den Lothar WALLERSTEIN im Sommer 1929 für Salzburg inszeniert hatte (Dirigent Clemens Krauss, Bühne Alfred Roller):
… Wenn es sich darum handeln würde, ein Musikwerk zur österreichischen Nationaloper zu ernennen, müßte es der Rosenkavalier sein. Maria-theresianisches Barock, Wiener Milieu, eine Flut von Wohlklang, Pracht für Aug‘ und Ohr, Witz und Laune, Lachen und Tränen, Graziosität der Musik […].
Die Besetzung ist wundervoll. Frau Lotte Lehmann, fürstlich als Erscheinung, königlich im Gesang, menschlich als Frau. […]
Das Haus bot ein internationales, vornehmes, gesellschaftliches Bild. Dem Prunk der Bühne stand die Eleganz der Zuhörer gegenüber, und schon an der Summe der Pferdekräfte der heranrollenden Autos konnte man die äußere Festlichkeit dieses Abends berechnen. Es gab stürmische Ovationen. Kunz.
Salzburger Volksblatt, 5. 8. 1930, S. 7
Selbst im Festspielsommer 1933 waren – trotz des Tourismusboykotts, den das nationalsozialistische Deutschland über das autoritär regierte Österreich verhängt hatte – alle Vorstellungen des Rosenkavaliers ausverkauft. Dank der internationalen und jüdischen Solidarität brachte die siebenundzwanzigste Vorstellung am 24. August 1937 ein Rekordergebnis: 485 Limousinen und zehn Pferdekutschen bei der Auffahrt zum Festspielhaus.
In Salzburg war es der letzte Auftritt Lotte LEHMANNS als »Feldmarschallin« – viel Glamour mit starken politischen Signalen.
In den beiden letzten Festspielsommern vor 1938 gab es im Zusammenwirken mit Bruno WALTER noch drei Neuinszenierungen von Lothar WALLERSTEIN: Der Corregidor von Hugo Wolf (1936), Euryanthe von Carl Maria von Weber und Le Nozze di Figaro von Mozart und Da Ponte auf Italienisch (1937). Eine vierte gemeinsame Inszenierung war für 1938 geplant: Mozarts und Da Pontes Cosí fan tutte auf Italienisch.
Auf dem Festspielprogramm 1938, das Joseph Goebbels als Spindoktor in Berlin diktierte, stehen die Opern Fidelio, Rosenkavalier und Le Nozze di Figaro, die Lothar WALLERSTEIN inszeniert hatte. Sein Name ist jedoch ausgelöscht, im nationalsozialistischen Wien ebenso.
Im März 1938 – ehe in Österreich die »Nürnberger Rassengesetze« in Kraft traten – wurde Lothar WALLERSTEIN als Oberregisseur aus der Wiener Staatsoper vertrieben.
Die Staatsoper hatte allerdings ein Gastspiel unter der Leitung von Bruno WALTER bei den Maifestspielen in Florenz geplant. Lothar WALLERSTEIN sollte die Oper Euryanthe inszenieren.
Da aber Hitlers Staatsvisite in Florenz angesagt war und erstmals bei den Florentiner Maifestspielen unter Mussolini nur »arische« Musiker teilnehmen durften, musste im März 1938 das Wiener Gastspiel abgesagt werden.
Lothar WALLERSTEIN hatte an der ligurischen Küste unweit von Florenz sein Feriendomizil, in das er sich nach seiner Vertreibung aus Wien zurückziehen konnte. Außerdem lebte sein Bruder Viktor Wallerstein, vertriebener Galerist aus Berlin, mit seiner Familie in Florenz.
Ungeklärt ist bislang der Tod seines Bruders Viktor im Kriegsjahr 1944 in Florenz. Es gelang aber seiner Frau Vera und ihren Kindern, ehe sie deportiert wurden, das von Deutschland besetzte Italien zu verlassen.
Unbestätigten Quellen zufolge war Lothar WALLERSTEIN ab April 1939 als Opernregisseur in Amsterdam und als Pädagoge am Konservatorium in Den Haag tätig – mutmaßlich bis zur deutschen Besetzung der Niederlande und bis zur Bombardierung Rotterdams im Mai 1940.
Er lebte bis zu seiner Flucht Anfang des Kriegsjahres 1941 im Verborgenen (in De Bilt bei Utrecht). Im Dunkeln liegen allerdings seine Fluchtwege – auf dem Land und Meer – nach Portugal. Auf der Passagierliste der Excalibur, die am 29. März 1941 in Lissabon auslief und am 8. April in New York eintraf, steht der Name Lothar WALLERSTEIN mit dem Vermerk »Hebrew«.
Auch zwei Freunde, die zu seiner Rettung betrugen, werden erwähnt: Dr. F. Thienen in Den Haag und Helen Taubler in New York City, 126 Riverside Drive, Lothar WALLERSTEINs Adresse, als er am 19. August 1941 seine Declaration zur Erlangung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft unterschrieb.
Zu diesem Zeitpunkt war schon absehbar, dass er unter den Geschwistern Wallerstein der einzige war, der sich in die freie Welt retten konnte.
Doch wann erlangte er Gewissheit über den Verlust seiner Nächsten in deutschen Todeslagern? Heute sind online-Datenbanken wie Yad Vashem und Arolsen Archives zugänglich. Man liest Daten, Fakten, sieht aber keine Menschen, Gesichter und Geschichten:
Lothars ältere Schwester Gertrud Tauber, mittlerweile verwitwet, und ihre Tochter Katharina wurden in Auschwitz ermordet.
Lothars Bruder Konrad, seine Frau Frieda und ihre Tochter Margot wurden ebenfalls in Auschwitz ermordet; ihr Sohn Heinz kam als politisch verfolgter Jude im KZ Dachau zu Tode.
Lothars jüngere Schwester Therese, einst in Prag gefeierte Pianistin, ihr Mann Emil Goldschmidt und ihr Sohn Herbert wurden in Maly Trostinec bei Minsk ermordet.
Lothars Schwester Laura Bunzel, einst Opernsängerin in Graz, und ihre in Graz geborene Tochter Greta wurden am 20. August 1942 – ein Monat nach dem Tod ihres Ehemannes respektive Vaters Dr. Julius Bunzel in Wien – nach Theresienstadt deportiert. Greta wurde von dort nach Auschwitz verschleppt und ermordet.
Gretas Mutter Laura Bunzel überstand 68-jährig das KZ Theresienstadt und starb 1962 in Wien, bestattet im Grab ihres Mannes Julius in der israelitischen Abteilung des Zentralfriedhofs.
Vier Kinder der Geschwister Wallerstein überlebten die Shoah: Lauras Sohn Joseph Hans Bunzel, Konrads Tochter Hanna Doris, verehelichte Ornstein, und Viktors Kinder Franz und Gitta, verehelichte Perl.
Wie konnten sie mit ihren Traumata umgehen, leben?
Lothar WALLERSTEINs Ehen, seine erste (1922) mit der Sängerin Margarete Pfahl und seine zweite (1944) mit der Sängerin Mary Strug, blieben kinderlos. Im November 1945 erhielt er die Staatsbürgerschaft der USA.
Gut dokumentiert sind mittlerweile WALLERSTEINs Inszenierungen an der Metropolitan Opera mit ihrem deutschsprachigen Repertoire – herausragend: Im Februar 1945 hatte Lotte LEHMANN ihren letzten Auftritt im Rosenkavalier, das Ende einer musikalischen Glanzepoche.
Von 1946 bis 1949 pendelte WALLERSTEIN als Gastregisseur zwischen seinem Exilland USA und dem befreiten Europa. Seine Wirkungsorte waren Scheveningen, Den Haag, Amsterdam, London, Paris, Florenz, Wien und Salzburg.
Im Festspielsommer 1946 sollte WALLERSTEIN eine Inszenierung des Jahres 1934 unter Bruno WALTER mit Oskar Strnads Bühnenbild auffrischen: Don Giovanni auf Italienisch. Das Revival zur Wiederbelebung der Glanzepoche glückte recht und schlecht, aber ohne Zutun des Gastregisseurs aus New York, da er die Festspiele verpasst hatte, »infolge Einreiseschwierigkeiten«, wie es hieß.
Im Herbst 1946 wirkte Lothar WALLERSTEIN als Gastregisseur in Wien, an der Volksoper und am Theater an der Wien, da die Staatsoper seit März 1945 eine Brandruine war. Im November 1946 bekam er den Titel »Hofrat« verliehen. Auch darüber berichtete die Wiener Presse. Über den Tod seiner Geschwister in Vernichtungslagern herrschte öffentliches Schweigen – Trauer im Privaten, hinter verschlossenen Türen bei seiner Schwester Laura.
Im Festspielsommer 1947 war Lothar WALLERSTEIN, aus Scheveningen kommend, rechtzeitig zur Stelle. Zum Auftakt hielt er den Vortrag »Die Kunst der Oper, die Oper eine Kunst«.
Am 28. Juli hatte Mozarts Le Nozze di Figaro auf Italienisch Premiere. Sie galt als Neuinszenierung WALLERSTEINs, wie jene im Sommer 1937 unter Bruno WALTERS Leitung.
Zu beachten ist noch, dass im Sommer 1947 Josef Krips und Otto Klemperer, vertriebene Dirigenten unter dem NS-Regime, Mozarts Figaro dirigierten.
Im Festspielsommer 1948 stand Figaro unter der Stabführung eines ehemaligen »Gottbegnadeten« Hitlers: Herbert von Karajan (1956 künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele).
1948 war Lothar WALLERSTEIN Gastregisseur in Florenz, Paris, Den Haag, Scheveningen und anderswo, nur nicht in Salzburg.
Lothar WALLERSTEIN hatte im Festspielsommer 1929 die Musikkomödie Der Rosenkavalier inszeniert. Zwanzig Jahre danach, im Festspielsommer 1949, setzte er »Österreichs Nationaloper« abermals in Szene: dieses Mal aber unter der musikalischen Leitung von George Szell, ebenfalls Vertriebener, Dirigent an der Metropolitan Opera.
Premiere war am 12. August 1949. Im Neuen Österreich erschien eine Kritik von Hermann Ullrich, Richter, Musikkritiker, Komponist und Vertriebener, doch einer der wenigen Rückkehrer:
Prachtvoller Rosenkavalier.
Lothar Wallerstein hat es verstanden, aus einer Repertoireoper etwas ganz Neues zu schaffen. Nicht nur Staub und Spinnweben, die sich an eine stehende Aufführung unweigerlich ansetzen, hat er weggefegt. Er hat das Werk von innen her und ganz aus dem Geist der Musik neugestaltet, mit einer Intuition für ihre Werte, wie sie nicht viele Regisseure besitzen. […] Dr. Hermann Ullrich.
Neues Österreich, 14. 8. 1949, S. 5
Es war Lothar WALLERSTEINs letzte Gastinszenierung in Salzburg. Er starb 67-jährig am 13. November 1949 in New Orleans. Im Nachruf der Zeitung Neues Österreich heißt es:
… Mit ihm ist eine der markantesten Erscheinungen aus der Glanzzeit der Staatsoper und ein genialer Regisseur dahingegangen. Sein Name wird in der Geschichte nicht nur des Instituts [der Staatsoper], sondern der Wiener Musik nicht vergessen werden. Y.
Neues Österreich, 16. 11. 1949, S. 4
Gewiss ist jedoch, dass sein Name im öffentlichen Raum seiner ehemaligen österreichischen Wirkungsorte Wien und Salzburg nicht existiert.
Quellen
- Israelitische Kultusgemeinde Wien
- Stadt- und Landesarchiv Wien
- Archiv der Salzburger Festspiele
- ANNO: Austrian Newspapers Online
- Österreichisches Musiklexikon Online
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